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bund blau2WARUM brauchen Kinder und Jugendliche eine religiöse Orientierung?

Mitschrift zum Vortrag von Dr. Michaela Glöckler am 26. Oktober 2015 in der Rudolf-Steiner-Schule Ismaning

Als Frau Glöckler vor 30 Jahren die „Kindersprechstunde“ schrieb, lautete eines der Kapitel genauso wie der Untertitel dieses Vortrags – die Frage nach dem "WARUM". Heute, 30 Jahre später, undenkbar – zuvor muss natürlich die Frage nach dem "Ob" gestellt werden! Und ganz wichtig dann auch die Frage nach dem "Wie"

Grundlegend bleibt gleichwohl die Frage nach dem "Warum".

Da ist zum einen der Aspekt der Stille, des immer gleichen Rituals, etwa eines gemeinsam gesprochenen Abendgebets. Es geht um die Suche, die Suche nach dem allgemein Menschlichen, das jeder Religion innewohnt. Das religiöse Moment ist ja unabhängig von einer bestimmten Konfession. Auch wer an keinen Gott glauben kann oder will, kann – wenn er selbst solche Fragen in sich bewegt – seine Kinder an seiner Suche teilhaben lassen und solche einfachen, schlichten, würdigen Momente entstehen lassen, derer unsere Kinder so dringend bedürfen. Etwas zu erleben, was über den Alltag hinausreicht.

Goethe sagt: Wer Wissenschaft (der Bezug zur Vergangenheit: Fakten müssen bereits bestehen) und Kunst (der Inbegriff von Gegenwart: wo anders kann man sich so tief im Hier und Jetzt verankern?) besitzt, hat Religion (in die Zukunft weisend), wer Kunst und Wissenschaft nicht besitzt, der habe Religion. Einer Erziehung ohne religiöse Aspekte fehlt die Perspektive!

Zum anderen wirkt diese (überkonfessionelle) Suche nach dem allgemein Menschlichen auch Toleranz veranlagend; wenn unsere Kinder uns Erwachsene als suchend erleben, ehrlich interessiert am Anderen, verstehen wollend, den Sinn finden wollend, veranlagen wir seelische und geistige Gesundheit - im Denken, Fühlen und Wollen.

Wenn wir selber diese Fragen in uns bewegen, begleiten wir unsere Kinder auch adäquat in ihrer Ich-Entwicklung. Dann bleiben sie damit nicht in den Kinderschuhen eines vorläufigen Selbst stecken, das konditionierbar, manipulierbar, also auch anfällig für religiösen Fanatismus ist, sondern können den Schritt in die Freiheit tun. Sie müssen dann nicht einen Ich-Ersatz suchen, sich in eine Gruppen-Identität einfügen, sondern erarbeiten sich eine Weltsicht, die es ihnen ermöglicht, zu verstehen, sinnstiftend zu verarbeiten und kompetent zu sein: gesund zu sein in jedweder Hinsicht.

Barbara Huber; Mutter an der Raphael-Schule, Bad Aibling

 

Ich bin nicht ich.--
Ich bin jener, der an meiner Seite geht, ohne dass ich ihn erblicke,
den ich oft besuche,
und den ich oft vergesse.
Jener, der ruhig schweigt, wenn ich spreche,
der sanftmütig verzeiht, wenn ich hasse,
der umherschweift, wo ich nicht bin,
der aufrecht bleiben wird, wenn ich sterbe.

Juan Ramón Jiménez

 

Dr. med Michaela Glöckler, Jahrgang 1946, leitet  die Medizinischen Sektion am Goetheanum und ist viel im In- und Ausland für die Anthroposophische Medizin unterwegs, aber auch mit anderen anthroposophischen Themen und aktuellen Zeitfragen und Lebensthemen befasst. Zahlreiche Publikationen sind von ihr erschienen, z.B. „Medizin an der Schwelle“, „Begabung und Behinderung“, „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, „Spirituelle Ethik“, „Kindersprechstunde“ (zusammen mit Wolfgang Goebel) u.a.

Sie war Waldorfschülerin, studierte Philosophie, Geschichte, Germanistik und Theologie in Freiburg und Heidelberg und Medizin in Tübingen und Marburg – begleitet von kontinuierlichem Selbststudium der Anthroposophie. Nach einer fachärztlichen Weiterbildung zur Kinder- und Jugendärztin am Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke und der Universitätsklinik in Bochum war sie auch als Kinder- und Waldorfschulärztin tätig. 

Mehr Auszüge aus Vortragsmitschriften finden Sie auf der Seite "Anthroposophie-lebensnah".

 

 

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